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„Entweder man geht mit der Zeit oder man geht mit der Zeit“

Brennpunkt Fachkräftemangel

Wie die Schmuck-Industrie dem Fachkräftemangel begegnet: drei Beispiele aus der Praxis.

Als Nick Binder, Marketing Director beim Trauringhersteller egf, mitten in der Werkstatt auf die Knie ging, um Bewerbern einen „Antrag“ zu machen – natürlich mit hauseigenem Ring in der Schatulle –, landete er einen veritablen Hit in den sozialen Medien: Der Clip wurde vielfach geteilt und verbreitete sich so wie ein Lauffeuer, weit über Pforzheim hinaus. Mit einem Etat weit unter den Kosten einer Anzeige in der Zeitung wurde er bei Instagram und Facebook beworben. 130.000 Menschen schauten sich den Clip an. Und er erreichte, was er sollte: 74 Bewerbungen gingen bei egf ein, zehn neue Mitarbeiter konnten so gewonnen werden.

Wer bewirbt sich hier bei wem?

Nick Binders erfolgreicher Antrag steht sinnbildlich für die Kräfteverschiebung am Arbeitsmarkt: Es sind nicht mehr die Interessenten, die sich um eine Stelle bewerben, sondern die Unternehmen werben um die Mitarbeiter. „Wir haben unseren gesamten Recruiting-Prozess in diesem Projekt umgedreht“, bestätigt Nick Binder. „Wer gern mit uns arbeiten möchte, muss nur Namen, E-Mail-Adresse und Handynummer hinterlassen, und wir melden uns dann bei ihm oder ihr, um rauszufinden, ob die Erfahrungen und Fähigkeiten zu uns passen könnten.“ Das Kalkül: Die Hürde für eine Bewerbung so niedrig wie möglich zu setzen, um so möglichst viele Interessenten zu erreichen.

Die Karriere-Rubrik auf der Firmenwebseite wurde ebenfalls völlig neu gestaltet, neben Nick Binder machen noch vier andere Mitar­beiter aus den Fachabteilungen per Video potenziellen Mitarbeitern einen Antrag. Auf der Seite wird durchweg geduzt. Dort ist jetzt auch viel über die Unternehmenskultur zu lesen, die „Benefits“ wie Werte, Teamsport, die guten Entwicklungschancen oder die Nachhaltigkeit. Themen, sagt Nick Binder, die bei Bewerbern immer wichtiger werden.

Um Job-Interessenten zu erreichen, werden alle möglichen, meist digitalen Wege genutzt. So wurde sogar ein Podcast über das Arbeiten bei egf produziert, neben Geschäftsführer Stefan Schiffer kommen darin auch Mitarbeiter zu Wort. Es werden neue Mitarbeitende über Social Media oder Job-Portale wie Stepstone und Indeed gesucht. Mitarbeiter bekommen Prämien für erfolgreiche Vermittlungen.
Trotz all der Mühen und frischen Ansätze ist das Recruiting kein Selbstläufer: Von Finanzbuchhalter über Galvaniseur bis zum Edelsteinfasser sind momentan elf offene Stellen ausgeschrieben bei egf. 40 Stellen hat egf seit seinem Spot bereits besetzt, schätzt Nick Binder. Die Zahl der Azubis wurde zudem von zwei auf zwölf erhöht – über alle Bereiche hinweg. „Wenn der Markt derart leer ist, hilft langfristig nur die Ausbildung der gesuchten Mitarbeiter“, sagt er.

Zudem versucht egf, frühzeitig in den Kontakt mit Schülern und Absolventen der Goldschmiedeschule oder der Hochschule Pforzheim zu kommen, zum Beispiel über einen Gestaltungswettbewerb anlässlich des Jubiläums der Binder-Gruppe. Mit der Hochschule wurde erst kürzlich eine Fünf-Jahres-Kooperation vereinbart. „Wir wollen uns so gern frühzeitig als potenzieller Arbeitgeber beim Nachwuchs positionieren.“


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Welche Rolle spielt das Arbeitsumfeld?

Auch Frank Heringer, Geschäftsführer der Diamond Group, berichtet augenzwinkernd vom Wandel in der Beziehung zwischen Bewerber und Unternehmen: „Hieß es früher nach einem Vorstellungsgespräch: ,Wir senden Ihnen am Montag unser Angebot‘, sagen Bewerber heute: ,Ich lasse Sie in der kommenden Woche wissen, ob Ihr Job in die nähere Auswahl kommt.‘“ Er klagt darüber nicht, er gibt aber offen zu, dass das für ihn eine Umstellung war. „Das Wort Work-Life-Balance habe ich früher nie in den Mund genommen. Heute spielt das für Angestellte aber eine große Rolle, und wir als Unternehmer müssen uns damit arrangieren, wenn wir gute Leute bekommen und binden wollen. Entweder geht man mit der Zeit – oder man geht mit der Zeit.“

So gibt es jetzt auch halbe oder Dreiviertelstellen statt der üblichen 40-Stunden-Woche. Die Diamond Group ist zudem vor Kurzem umge­zogen in einen weitläufigen ehemaligen Landsitz mit Swimmingpool, Teich, Garten und Fitnessraum. Er bezahle den Mitarbeitern inzwischen auch das Fitnesscenter, sagt Frank Heringer. Im Firmenrestaurant wird zudem täglich frisch gekocht, vom eigens engagierten Koch. „Das Arbeitsumfeld ist wichtig, wenn Mitarbeiter motiviert sein und gute Leistungen bringen sollen“, sagt er. Sogar aus Idar-Oberstein pendelten mittlerweile vier Goldschmiede bis nach Lonnig, eine Stunde zehn pro Strecke. „Sie sagen, das lohnt sich, denn diese Bedingungen finden sie sonst nirgendwo“, berichtet Frank Heringer stolz. Was unternimmt die Diamond Group, um Personal zu gewinnen? Bei 70 Prozent Umsatzwachstum über die vergangenen drei Jahre ist der Bedarf sicher hoch? „Wir rekrutieren sehr stark über die Uni in Koblenz hier in der Nähe“, sagt Frank Heringer. „Wir holen junge Leute als Werkstudenten zu uns, und wenn sie fertig sind, bekommen sie ein gutes Angebot, wenn sie sich bewährt haben.“ Einen direkten Personalmangel habe die Diamond Group so bisher vermeiden können, zumal Uni-Absolventen – anders als Meister und Gesellen im Handwerk – momentan noch ganz gut verfügbar sind.

Ersetzen Maschinen das fehlende Personal?

Echten Mangel kennt dagegen Eberhard Auerbach-Fröhling vom Trauringhersteller Gerstner. Von zwölf Polisseuren und Polisseusen, die hier einst beschäftigt waren und weiter beschäftigt sein könnten, sind gerade noch sechs übrig. „Der Beruf wird schlichtweg nicht mehr ausgebildet“, sagt er. „Entsprechend müssen wir nach Alternativen schauen.“

Für den technikbegeisterten Firmenchef heißt das: Neue Maschinen übernehmen inzwischen zum Teil die Tätigkeit, für die er vorher Mit­arbeiter beschäftigt hat. Auch Edelsteinfasser sind bundesweit ein rares Gut. Fünf festan­gestellten Fassern stehen bei Gerstner 13 Frei­berufler gegenüber. Das Fassen von Zirkonia wird bei Gerstner mittlerweile ebenfalls großteils maschinell erledigt. „Ich werbe in unserer Fachgruppe Trauringhersteller immer wieder dafür, dass wir uns der maschinellen Fertigung mehr öffnen müssen“, sagt Eberhard Auerbach-Fröhling. „Es ist doch absehbar, dass wir vieles einfach nicht mehr manuell machen können, weil uns das passende Personal dafür fehlt. Wir müssen das aber auch gar nicht: Maschinell ist heute sehr vieles in sehr hoher Qualität möglich.“

Klar ist: Nicht alles können Maschinen, nicht alles ist programmierbar. Für die kreativen und die handwerklichen Fähigkeiten und Tätigkeiten oder auch zum Bedienen der Maschinen braucht es weiter gut ausgebildete Fachkräfte. Eberhard Auerbach-Fröhling ist deshalb froh, dass er auf manche Mitarbeiter auch nach dem Rentenbeginn noch zurückgreifen kann. Zudem konnte er zwei Goldschmiede aus der Ukraine für Gerstner gewinnen. Sie waren mit ihren Familien vor dem Krieg geflüchtet und wollen deshalb in Pforzheim bleiben. Er setzt damit auf zwei Faktoren, die viele Arbeitsmarktexperten als Schlüssel zur Linderung des Fachkräftemangels sehen: den flexiblen Renteneintritt und die Aktivierung älterer Arbeitnehmer sowie die Zuwanderung ausländischer Fachkräfte. An der Bezahlung, sagen alle drei Unternehmen unisono, liege es eher nicht, wenn es Personalengpässe gebe: Gute Leute würden bei ihnen auch gut verdienen. Allgemein fehle es der Branche aber seit fünf bis zehn Jahren an Nachwuchs – den heranzuziehen sei eine Zukunftsaufgabe für alle.

Eberhard Auerbach-Fröhling ist sich auch sicher, dass in naher Zukunft die Vier-Tage-Woche ein Thema wird: Einzelne Abteilungen „üben“ das Modell bereits, und bis jetzt funktioniere es gut. Tendenziell werde dann aber eher der Montag als der Freitag frei sein, weil am Wochenende das Hauptgeschäft mit Trau- und Verlobungsringen gemacht werde. „Am Samstag arbeitet sowieso schon meist der Chef mit.“

egf
Nick Binder von egf machte Interessenten per Social-Media-Clip einen Antrag.

Gerstner
Eberhard Auerbach-Fröhling von Gerstner setzt verstärkt auf maschinelle Fertigung.

 

Diamond Group
Frank Heringer und Anke Schmidt von der Diamond Group setzen auf ein attraktives Arbeitsumfeld, um Mitarbeiter zu gewinnen und zu binden.

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