| Wirtschaft
In einem Kommentar kritisiert Michael Gerling, Geschäftsführer EHI Retail Institute, die Entscheidung, dass lediglich Geschäfte bis 800 Quadratmeter Verkaufsfläche ab Montag wieder öffnen dürfen. Hier Auszüge:
Bislang dürfen 20 Prozent der gut 475.000 Einzelhandelsbetriebe in Deutschland ihre Geschäfte grundsätzlich öffnen, ab dem 20. April kommen bis zu 75 Prozent dazu. Die übrigen Geschäfte, die für 15 bis 20 Prozent des Einzelhandelsumsatzes stehen, müssen geschlossen bleiben. Die Ankündigung, dass ab dem 20. April 2020 Einzelhandelsbetriebe mit einer Verkaufsfläche von bis zu 800 m² unter Auflagen öffnen können, und das Buch-, Fahrrad- und Kfz-Handel grundsätzlich und unabhängig von der Verkaufsfläche der einzelnen Betriebe ihre Geschäfte wieder aufnehmen dürfen, konnte im Einzelhandel insgesamt wenig erfreuen, denn sie führt zu einer starken Benachteiligung einiger weniger Unternehmen. Ganz genau stehen die Zahlen natürlich noch nicht fest, zumal die Auslegungen im Einzelnen noch von den Ländern zu bestimmen sind und dann auch vor Ort die Erfüllung der Abstandsregeln und Hygienevorschriften in jedem Einzelfall zu beurteilen sein wird. Zu den Einkaufszentren hat die Bundesregierung keine eindeutige Stellung bezogen. Die Entscheidung trifft vor allem deshalb auf großes Unverständnis, weil jegliche sachliche Begründung fehlt und die Beweggründe auch bei genauerem Hinschauen nicht erkennbar werden. Es wäre nachvollziehbar gewesen, wenn die Kundenfrequenz beziehungsweise die Zahl der Kunden pro Quadratmeter Verkaufsfläche das wesentliche Kriterium für die Öffnungsentscheidung gewesen wäre. Offensichtlich scheint aber der schlichte Pragmatismus die Entscheidungen bestimmt zu haben, mangels Kompetenz in der Überwachung und Umsetzung. Die Größe der Verkaufsfläche lässt sich eben weitaus einfacher beurteilen als die Relationen von Fläche und Kundenzahl. Wenn, wie immer wieder betont wird, vor allem das Abstandhalten wesentliches Kriterium zur Eindämmung der weiteren Verbreitung von COVID-19 ist, dann hätte niemals die schlichte Größe der Verkaufsfläche Maßstab für die Entscheidung über Geschäftsöffnungen sein dürfen. Die Entscheidung der Politik zeugt von mangelnder Sachkompetenz in Fragen des Einzelhandels. Und sie legt die Vermutung nahe, dass einerseits die Lobbyisten der Automobilindustrie wieder einmal ihren ganzen Einfluss geltend machen konnten und das Lesen und Radfahren zu den bevorzugten Freizeitaktivitäten unserer Politiker zählen. Schon die erste Phase des Shutdown hatte im Einzelhandel für Ungleichheiten gesorgt. Die Öffnung von Lebensmittelgeschäften und Drogeriemärkten stand für alle außer Frage, auch, wenn es vereinzelt Stimmen gab, die den Verkauf von Nonfood-Artikeln in diesen Geschäften kritisiert haben. Die Öffnung von Bau- und Gartenmärkten in großen Teilen der Republik war allerdings ausgesprochen umstritten. Und auch die regional uneinheitliche Auslegung von manchen Geschäftsmodellen, zum Beispiel beim click und collect, hat für viel Unverständnis gesorgt. Nun führt die Entscheidung allerdings dazu, dass die Ungleichheiten stark verschärft und einige Wettbewerber im Einzelhandel eindeutig diskriminiert werden. Ihnen wird die Chance genommen, mit einem sinnvollen Konzept unter Wahrung von Abstands- und Hygienevorschriften das Geschäft unverzüglich wieder aufzunehmen. Am Ende sind mit der aktuellen Entscheidung natürlich sehr große Teile des Einzelhandels in Deutschland wieder in der Lage, die Türen für die Kunden zu öffnen. Manche Anbieter sind es aber eben nicht. Und das ohne klaren sachlichen Grund. Sie trifft es ganz besonders und es ist zu befürchten, dass diese Unternehmen die nächsten vier Wochen nicht überstehen werden. Dennoch muss die Entscheidung auch positiv gesehen werden. Offensichtlich hat die Politik erkannt, welch große Bedeutung der Einzelhandel für die Menschen und für die Wirtschaft hat. Mit weit über 3 Millionen Beschäftigten und einem Jahresumsatz von 550 Milliarden € wird jeder sechste Euro des Bruttoinlandsproduktes vom Einzelhandel erwirtschaftet. Der Einzelhandel ist ein wesentlicher Teil des gesellschaftlichen Lebens, in der Innenstadt genauso wie in der Nachbarschaft.