| GZ 125 Jahre
Eine Welle an Herausforderungen rollt derzeit auf den Juwelier-Einzelhandel zu und droht gerade jenen, die der Corona-Goldrausch in Lethargie versetzt hat, über dem Kopf zusammenzuschlagen. Was tun? Es gilt: Nicht Augen zu und hoffen, dass man irgendwie durchtauchen kann, sondern Augen auf und die Probleme aktiv angehen. Wassersportler wissen: Die Welle macht den Meister. Wir wollen unsere Zukunft positiv gestalten. Doch dazu braucht es zunächst eine nüchterne Bestandsaufnahme.
Schöne, luxuriöse, überflüssige Dinge sind es, mit denen sich die Schmuck- und Uhrenbranche beschäftigen darf. Doch auch der Handel mit der Schönheit trifft mitunter auf unschöne Herausforderungen. Deswegen ein Blick zurück nach vorn.
Es war einmal eine Zeit, da nannte man Deutschland den kranken Mann Europas. Fast genau 20 Jahre ist es nun her, dass im März 2003 die Agenda 2010 verkündet wurde. Es war ein gigantisches Reformprojekt, um den kranken Mann, der 4,4 Millionen Arbeitslose bei ausufernden Kosten schultern musste, wieder fit und leistungsstark zu machen. Auch wenn man heute vom geistigen Vater dieser damaligen Reformen enttäuscht sein mag, Fakt bleibt: Die Agenda 2010 war ein gigantisches Reformwerk, das Deutschland auf 20 Jahre wieder wettbewerbs- und zukunftsfähig gemacht hat.
Zwei Jahrzehnte später ähnelt die Situation hierzulande auf fatale Weise der von 2003, auch wenn der Arbeitsmarkt heute natürlich ganz anders aussieht. Denn nicht Arbeitslosigkeit bedroht uns, sondern der Fachkräftemangel. Was jedoch fatal an damals erinnert: Wieder erstarrt das Land in Bürokratie und die zukunftsweisenden Themenkreise Bildung, Migration, Rente, Klima und Pflege stehen wie nicht bezwingbare Monolithen vor uns. Man hat den Eindruck, als duckten sich Politik und Gesellschaft vor den Problemen weg, anstatt sie endlich anzupacken.
Nun maßt sich die kleine GZ auch zum 125. Geburtstag natürlich nicht an, eine Agenda für das ganze Land zu fordern, aber ein paar Ideen für eine neue Aufbruchsstimmung in unserer Branche möchten wir uns doch vorzuschlagen trauen. In diesem Sinne: Auf zur Agenda 2030!
Mehr Umsatz, weniger Geschäfte
Das Jahr 2022 war ein sehr gutes Jahr für die Schmuck- und Uhrenindustrie in Deutschland. Nachholeffekte der Pandemie und eine gute Stimmung sorgten für Rekordergebnisse. Der Gesamtumsatz mit Schmuck und Uhren betrug 5,3 Milliarden Euro, wovon drei Viertel auf Schmuck entfielen. Das entspricht einem Plus von rund 20 Prozent.
Doch der Glanz dieser Sondereffekte darf nicht blenden. Denn zugleich bleibt zu konstatieren, dass der Einzelhandel mit Schmuck und Uhren ein schwindendes Gut ist. Gab es 2010 noch 6834 Einzelhandelsgeschäfte, so sind es Stand 2021 noch 5225. Das ist ein Minus von 23 Prozent in nur einem Jahrzehnt. Tendenz? Weiter fallend! Das heißt: Die verbliebenen Stores müssen sich fünf Kernherausforderungen stellen, damit auch für sie die guten Zeiten nicht schon bald Tempi passati sind.
1. Die wirtschaftliche Gesamtlage
Der Wirtschaftsstandort Deutschland wird zunehmend unattraktiver. Die Steuerlast für Unternehmen liegt weltweit im absolut oberen Bereich. In Irland zum Beispiel ist sie bei gerade einem Drittel der deutschen. Hinzu kommt ein Riesenaufwand, den die deutsche Bürokratie den Unternehmen auferlegt: 79 Prozent der Kleinunternehmen empfinden den Bürokratieaufwand als hoch oder sehr hoch. Energiekosten und Heizungshammer tun ihr Übriges. In der Folge blicken laut einer aktuellen Umfrage zum Tag der Wirtschaft zwei Drittel der jungen Unternehmer pessimistisch in die Zukunft. Was hat uns bloß so ruiniert?
2. Die verödenden Innenstädte
Die Pandemiebeschränkungen sind vorbei, aber die Leere in den Innenstädten bleibt. Die Frequenzen liegen laut dem Handelsverband Deutschland (HDE) 20 Prozent unter dem Vor-Corona-Niveau. Leerstand und 1-Euro-Läden sind in vielen Städten längst traurige Realität. Hinzu kommt, dass immer mehr Top-Brands sich aus kleineren Städten zurückziehen – ein Phänomen, das sich auch deutlich in der Uhrenindustrie zeigt. Die Folge? Wachsende Unattraktivität insbesondere in den ländlicheren Bereichen.
3. Die Onlinekonkurrenz
Der Juwelier hat nicht mehr nur ein Schaufenster, er benötigt ein zweites, digitales. Nicht der benachbarte Juwelier ist der Konkurrent, sondern die unsichtbare Konkurrenz umfassender Onlineangebote, die den Verkauf ohne stationäre Basis möglich machen. Dies führt seit Jahren zu völlig neuen Herausforderungen für den Händler. Er muss sich mit Webshop, SEO und Instagram beschäftigen, alles eigentlich nicht seine Kernkompetenzen.
4. Uhren als Nebensache
Die Top-200-Juweliere in Deutschland generieren einen hohen Teil ihres Umsatzes mit den großen Uhren-Brands. Die Konzession einer der großen Marken ist eine Lizenz zum Gelddrucken. Doch selbst die juwelierstreuen Marken dünnen ihr Filialnetz gerade massiv aus. Viele weitere Brands, gerade die der Konzerne, setzen auf eigene Boutiquen und Onlinevertrieb. Der Juwelier erhält, wenn überhaupt, nicht mehr die relevanten Modelle. Vielleicht mag sich dieser Trend irgendwann wieder drehen. Doch für den Moment gilt: Der einstige Umsatzmotor Uhren wird zur Nebensache mit dem unguten Nebeneffekt, dass massive Umsätze verloren gehen. Damit wächst die Herausforderung, sich neue Konzepte zu überlegen.
5. Der Fachkräftemangel
Rund zwei Millionen Fachkräfte fehlen in Deutschland und natürlich ist auch die Schmuck- und Uhrenbranche hiervon stark betroffen. Es fehlt an allen Ecken und Enden. An Verkaufspersonal, Goldschmieden und Uhrmachern, Fassern und Polisseusen. Die GZ widmet sich dem Thema über das komplette Jahr mit der gleichermaßen ketzerischen wie aufrüttelnden Kernfrage: „Schafft die Branche sich selbst ab?“ Hier nur eine Zahl: Die Anzahl der Auszubildenden im Uhrmachersektor sank von 1998 bis 2021 um unfassbare 58 Prozent.
Eines kann uns keiner nehmen: Menschen kaufen bei Menschen, weil sie es wollen. Beim Schneider Stoffe fühlen, das Schreibgerät übers Papier gleiten lassen, das seidenweiche Collier auf der eigenen Haut spüren: Das ist es, was wirklich Freude bereitet und Luxuskonsum so begehrenswert macht.
Die neue Gastlichkeit
Der Juwelier sollte deswegen nicht nur ein kompetenter Ratgeber, sondern auch ein perfekter Gastgeber sein. Den Kunden umsorgend und bewirtend, schafft er ein unvergleichliches Einkaufserlebnis, das alle Sinne anspricht.
Immer mehr Stores setzen bereits auf Konzepte mit Coffee-Lounge oder Barbereich, manche sogar mit Kochinseln. Der Juwelier wird so zum Ort der Einkehr, denn die Philosophie lautet längst: Barrieren und Hemmschwellen abbauen und eine Kultur der offenen Türen zelebrieren. Einfach mal reinschauen wie beim Lieblingsitaliener: Man möchte sich als Kunde einfach umsorgt fühlen. Einen Gruß aus der Küche und den Grappa aufs Haus. Juwelier Mundwiler aus Winterthur beispielsweise versendet im Nachgang zum Kauf handgeschriebene Briefe mit einem Gutschein aus dem hauseigenen Feinkostgeschäft. Eine geniale Idee. Prädikat: nachahmenswert!
Mehr Miteinander – auch in Marketing und Ausbildung
Der Einzelhändler ist ein Einzelkämpfer. Dennoch: Kooperationen vor Ort mit ähnlich gesinnten Händlern und der Gastronomie können das Shoppingerlebnis und den Stadtbesuch attraktiver machen. In Hamburg zum Beispiel arbeiten viele Geschäfte am Neuen Wall in einer Aktionsgemeinschaft zusammen.
Mehr Miteinander, auch in Sachen PR. Warum nicht ein gemeinsames Marketing wagen? Eine Plattform initiieren, auf der sich Juweliere aus unterschiedlichen Städten gemeinsam dem Publikum präsentieren mit einem gemeinsamen Werbebudget. Dies hätte mehr Durchschlagskraft als der Einzelkampf. Und vor allem braucht es eines: die große gemeinsame Ausbildungsoffensive von Herstellern, Juwelieren und Verbänden!
Improvisation: Let’s pop up!
Warum muss der Juwelier eine Marke eigentlich immer aufnehmen oder nicht aufnehmen? Warum nicht mal etwas ausprobieren? Wie wär’s mit einer zweiwöchigen Präsenz auf einer Pop-up-Fläche, gerne im Sommer auch mal draußen, ein cooles Lounge-Event mit unabhängigen Designern. Einfach mal sehen, was geht – trial and error. Wempe zum Beispiel gibt in Berlin jungen, coolen, kreativen Talenten im Monatswechsel Raum, sich zu inszenieren. Das schafft Abwechslung, macht die Kunden neugierig, sorgt für Frequenz. Und wer weiß: Vielleicht ist das Jungtalent ja auch der Star von morgen.
Digital ist besser? Nicht verrückt machen
Natürlich ist es wichtig, ein ordentliches Schaufenster im Netz und eine gute Visitenkarte auf Social Media zu haben. Denn nur wer digital gefunden wird, kann auch vor Ort Abschlüsse tätigen. Dazu kann auch ein Shop dienen, der aber erfahrungsgemäß mehr der Geschäftsanbahnung als dem Abschluss dient.
Gleichzeitig sollte der Handel sich von den sich potenzierenden Anforderungen der Marken nicht verrückt machen lassen. Ein Einzelhändler ist schließlich keine Onlineplattform wie Amazon oder Zalando. Das kann er gar nicht sein.
Digital ordentlich arbeiten, aber sich auf die Stärken fokussieren sollte deshalb die Devise lauten. Und dazu gehört auch diese Wahrheit: Ein liebevoll gestalteter Katalog, zielgenau versendet an Bestandskunden, bleibt für viele Händler weiterhin das erfolgreichste und effektivste Marketingtool. Denn ein Katalog oder Magazin ist wie ein individuelles Schreiben, das dem Kunden zugestellt wird: ein Liebesbrief in Schmuck.
Plädoyer für Persönliches
Schmuck und Uhren feiern magische Momente. Man schenkt zu besonderen Anlässen oder belohnt sich selbst. Man trägt die Dinge als Ausdruck der eigenen Persönlichkeit. Es gibt also kaum etwas Persönlicheres als Schmuck und Uhren. Und der Juwelier sollte der Concierge dieser persönlichen Momente sein.
Das kann er umso besser, je persönlicher, je individueller er selbst und sein Geschäft sind. Am Ende ist persönliche Betreuung immer eine Frage der Datenlage. Weiß ich, wann mein Kunde Geburtstag oder Hochzeitstag hat oder dass sein Kind Abitur macht? Je mehr Daten vorliegen, desto individueller kann kommuniziert werden. Zum Beispiel durch Newslettermarketing, das in kaum einer Branche so erfolgreich ist und so hohe Öffnungsraten hat wie bei Juwelieren, weil diese Vertrauen genießen. Aber auch WhatsApp-Marketing gewinnt zunehmend an Relevanz. Ein kurzer Reminder an den Hochzeitstag mit drei Geschenkvorschlägen kann Umsatzwunder bewirken.
Das Sammeln von Daten, ein gutes CRM, ist also die Grundvoraussetzung für die persönliche Beratung, mehr noch: Es erlaubt die proaktive Gestaltung der Beratung, denn man muss nicht auf den Kunden warten, sondern kann ihn aktiv ansprechen. So banal das klingen mag: Alles, was man selbst gestalten kann, ist besser als alles, auf das man hoffen muss.
Und dazu gehört letztlich auch für jeden die klare Analyse der Frage: Mit welchen Marken kann man seine Zukunft partnerschaftlich gestalten und bei welchen besteht ein Abhängigkeitsverhältnis, das man eben nicht selbst steuern kann?
„Wo geht es denn hier zur Zukunft?“ Das kann jeder nur für sich persönlich beantworten. Vielleicht können wir als GZ hierzu einige Inspirationen geben.
Wir sind sicher: Zukunft kommt von Zuversicht. Gehen wir den Weg doch einfach weiter. Gemeinsam. Die Branche und ihr Leitmedium GZ.